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Der Ziegenmelker, das UKT und der OB

Naturschutz ist Bürokratie?

Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C5%9Eivanxap%C3%AEnok.jpg

Oberbürgermeister Palmer hatte im April 2024 wieder einmal einen Auftritt bei Markus Lanz, was wiederum ein gefundenes Fressen für diverse Medien von TikTok über B-Zeitung bis SWR war.

Dieses Mal ging es um einen Ziegenmelker (eine seltene, geschützte Nachtschwalbenart), der angeblich eine zeitnahe Erweiterung des Uniklinikums Tübingen verhindert. Die stark vereinfachte Argumentation OB Palmers ruft nach einer fachlich-sachlichen Ergänzung:

- Der männliche Ziegenmelker hatte am Steinenberg (liegt im FFH-Gebiet und ist seit langem als NSG geplant) und angrenzenden Flächen bis 2022 ein Revier, das Vorkommen von Ziegenmelkern ist schon seit Jahren bekannt (s. auch Gutachten im Auftrag der Stadt Tübingen, ab S. 18) Es handelt sich also um eine potentielles Nahrungs- und Bruthabitat.

- Das Uniklinikum/ das Amt für VBA BW wussten schon seit Jahren von dem Vorkommen des Ziegenmelkers und notwendigen Ausgleichs- bzw. CEF-Maßnahmen im Fall der Klinikerweiterung. UKT und Uni/ VBA scheinen aber immer wieder die Naturschutzbelange zu "vergessen" und dann muss es plötzlich "hopplahopp" gehen (wie jüngst im Fall des UKT-Antrags auf Umwandlung einer Streuobstwiese). Falls die Genehmigungsbehörden einen geplanten Eingriff nicht abnicken, werden sie in der Öffentlichkeit schnell als Fortschrittsverhinderer oder Ähnliches gebrandmarkt.

- Es sollen insgesamt 10 ha lichte Waldstrukturen geschaffen werden (zum Vergleich: Allein das anvisierte Baugebiet "Saiben" der Stadt Tübingen im Neckartal ist rund 20 ha groß!). Dafür ist eine Teilrodung unter Belassen einzelner Überhälter/ Habitatbäume erforderlich. Neben der eigentlichen Rodung sollen auf ca. 30 % der Fläche eine Rohbodensituation ("beliebt" u. a. bei diversen Wildbienen) geschaffen werden. Zudem soll in den unmittelbar angrenzenden Bereichen die Überschirmung auf bis zu 20% bzw. 50% abgesenkt werden.
Um die Fläche dauerhaft von jeglichem Bewuchs freizuhalten, ist darüber hinaus eine Beweidung (Waldweide) geplant. Der Besuch des sogenannten "Erholungswaldes" kann durch eine Fläche mit extensiver Weidehaltung mit Eseln oder anderen Huftieren sogar attraktiver werden.

- Natürlich ist nicht garantiert, dass der Ziegenmelker zurückkehrt. Die Erfolggeschichte der aus dem Ammertal und oberen Neckartal verschwundenen und durch entsprechende Habitatmaßnahmen (inkl. Besuchermagnet "Wasserbüffel") zurückgekehrten Kiebitze zeigt aber, das es sich lohnen kann, einen potenziellen Lebensraum aufzuwerten.

- Der Ziegenmelker ist (ähnlich wie der Kiebitz) eine Schirmart. das heißt, dass von der aufgelichteten Fläche würden auch andere Vogelarten, Reptilien und Insekten profitieren würden.

- Über den konkreten Fall hinaus: Das Framing "Der Naturschutz ist Bürokratie und Fortschrittsverhinderer" (Fortschritt wohin?) wurde schon vor den Bauernprotesten gern zur Abwertung und Schwächung der Naturschutzbelange verwendet. Bürokratieabbau ist prinzipiell gut (da gilt übrigens auch für manche Antragsverfahren für Naturschutzmaßnahmen), darf aber nicht als Kampfbegriff gegen den Naturschutz verwendet werden. Denn es ist es offensichtlich, dass die Biodiversitätskrise durch intensive Agrar- und auch Forstwirtschaft, Flächenfraß- und Zerschneidung sowie Klimawandel trotz der angeblichen Blockademacht der Naturschutzbehörden voranschreitet. Selbst behördlich verordnete, mehr oder weniger sinnvolle Ausgleichsmaßnahmen können vielerorts den Artenschwund mangels Flächenwirksamkeit und aufgrund des Kontroll- und Vollzugsdefizits nicht stoppen.
Der Naturschutz, insbesondere die Naturschutzbehörden sind im Vergleich zu anderen Interessensgruppen und Behörden schwach. Letztere konzentrieren sich vielleicht auch deshalb auf Auflagen und Vorschriften zum Schutz lokaler Populationen oder sogar einzelner Individuen geschützter Arten, weil sie in der Fläche aus machtstrukurellen und personellen Gründen versagen.

Dies gilt auch für das Stadtgebiet Tübingen (inkl. Teilorte): Der Flächenverbrauch und die Lebensraumfzerschneidung durch Gewerbe-,Wohn- und Straßenbau schreiten voran, während die Stadt gleichzeitig mangels Personal und aufgrund anderer Prioritäten den Arten- und Biotopschutz erheblich vernachlässigt. Die Verwaltung kommt selbst ihren Pflichtaufgaben, seien es
- funktionierende(!) Ausgleichsmaßnahmen für Baugebiete, die außerdem für die Öffentlichkeit und Gemeinderät*innen einsehbar sein sollten
- Umsetzung des Biotopverbunds (§ 22 NatschG)
- Schutz der Fließgewässer und ihrer Uferbereiche (§ 29 WG)
- Bodenschutz (Boden ist Kohlenstoffspeicher, Bodenschutz = Klimaschutz!)
- oder die Berücksichtigung geschützter Arten wie Mauersegler, Schwalben, Fledermäuse bei Bau- und Sanierungsmaßnahmen (§44 BNatschG)
nicht oder nur schleppend bzw. erst nach Hinweisen der Naturschutzverbände nach.

Ergänzung: Die bisher nicht vorhandene Öffentlichkeitsarbeit bzw. die Nichtkommunikation der beteiligten (Genehmigungs-)behörden in dieser Sache erweisen dem Naturschutz wieder einmal einen Bärendienst, den der BUND und andere Verbände nicht ausbügeln können.

Die grundlegenden Problemen der Naturschutzverwaltung und werden in diesem aufschlussreichen Beitrag der Zeitschrift "Naturschutz und Landschaftsplanung" analysiert.

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